Jahr für Jahr am 16. September verwandelt sich ganz Mexiko in eine einzige große Fiesta. Straßen füllen sich mit Menschen in den Nationalfarben, Mariachi-Musik erklingt aus allen Ecken, und der Duft von traditionellem mexikanischen Essen liegt in der Luft. Doch was genau feiern unsere mexikanischen Freunde an diesem besonderen Tag? Die Geschichte dahinter ist faszinierender und komplexer, als viele ahnen.
Zwei verschiedene Bewegungen, ein gemeinsames Ziel
Was heute als mexikanische Unabhängigkeit gefeiert wird, war tatsächlich das Ergebnis zweier völlig unterschiedlicher Bewegungen, die elf Jahre voneinander trennten. Die erste war eine massive Volksrevolution, die zweite eine strategische politische Allianz – beide unverzichtbar für Mexikos Befreiung.
Am Morgen des 16. September 1810, gegen acht Uhr, läutete Pfarrer Miguel Hidalgo y Costilla in der kleinen Stadt Dolores die Kirchenglocken. Statt die gewohnte Sonntagsmesse zu halten, rief er seine Gemeinde zum bewaffneten Widerstand gegen die spanische Kolonialherrschaft auf. Die genauen Worte dieses historischen „Grito de Dolores“ sind bis heute umstritten, doch seine Wirkung war unmittelbar: Zehntausende von Indigenen, Mestizen, Bergleuten und Tagelöhnern schlossen sich spontan der Bewegung an.
Diese erste Phase war eine wahrhaft massive Volksrevolution – chaotisch, leidenschaftlich und von sozialen Forderungen geprägt. Hidalgo und seine Nachfolger José María Morelos kämpften nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichberechtigung aller Ethnien und die Umverteilung des Landes.
Die Wendejahre 1820-1821: Als sich die Machtverhältnisse verschoben
Nach Morelos‘ Hinrichtung 1815 schien die Unabhängigkeitsbewegung fast erloschen. Nur wenige Guerilla-Kämpfer wie Vicente Guerrero hielten in den Bergen des Südens den Widerstand aufrecht. Doch dann änderte sich 1820 alles: In Spanien etablierte sich eine liberale Verfassung, die den konservativen Kreolen in Mexiko ihre Privilegien zu entziehen drohte.
Plötzlich wollten genau jene Kreise die Unabhängigkeit, die sie zuvor erbittert bekämpft hatten. Sie brauchten jedoch die Legitimität der ursprünglichen Unabhängigkeitsbewegung. Hier kommt eine der faszinierendsten Wendungen der Geschichte ins Spiel: Agustín de Iturbide, ein erbarmungsloser royalistischer Offizier, der jahrelang Rebellen gejagt hatte, wandte sich 1821 an seinen ehemaligen Feind Vicente Guerrero.
Was folgte, waren Briefe zwischen den Gegnern – eine damals durchaus übliche Praxis. Iturbide bot Guerrero zunächst eine Kapitulation an, doch der antwortete geschickt: Er sei durchaus interessiert, aber nur, wenn es um echte Unabhängigkeit gehe. Am 10. Februar 1821 trafen sich beide Männer in Acatempan zu jenem berühmten „Abrazo de Acatempan“ – der Umarmung, die Mexikos Schicksal besiegelte.
Der Plan de Iguala: Ein Dokument für alle
Am 24. Februar 1821 verkündeten Iturbide und Guerrero den Plan de Iguala, ein politisches Meisterwerk, das praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen etwas bot. Die „Tres Garantías“ (Drei Garantien) – Religion, Unabhängigkeit und Union – sollten alle Mexikaner vereinen, unabhängig von ihrer Herkunft.
Das neu gebildete Ejército Trigarante (Armee der Drei Garantien) vereinte die erfahrenen Guerrillakämpfer Guerreros mit Iturbides organisierten Truppen. Am 27. September 1821 marschierten sie triumphierend in Mexiko-Stadt ein – nach elf Jahren war die Unabhängigkeit endlich erreicht.
Wie Mexiko heute feiert: Ein Fest für alle Sinne
Diese komplexe Geschichte lebt heute in den Feiern fort, die ganz Mexiko erfassen. Das Herzstück vieler Feiern sind die „Verbenas Populares“ – lebendige Volksfeste, die in vielen Teilen Mexikos zu finden sind. In vielen Städten und Dörfern versammeln sich Menschen auf den Zócalos, den zentralen Plätzen, um gemeinsam zu feiern.
Der Höhepunkt jeder Feier ist der traditionelle „Grito de Independencia“. Um punkt 23 Uhr tritt der Präsident in Mexiko-Stadt (oder der jeweilige Bürgermeister in anderen Städten) vor die versammelte Menge und ruft die Namen der Unabhängigkeitshelden – Hidalgo, Morelos, Guerrero und alle anderen. Die Menge antwortet nach jedem Namen mit einem lauten „¡Viva!“ Das Ritual endet mit dem dreifachen Ruf „¡Viva México!“, den die Menschenmasse begeistert wiederholt, gefolgt von Feuerwerk und noch mehr Musik.
Kulinarische Traditionen: Was kommt auf den Tisch?
Kein mexikanischer Unabhängigkeitstag wäre komplett ohne die richtigen Speisen. Bei den großen Straßenfesten und Verbenas Populares entfaltet sich die ganze Pracht der mexikanischen Küche. Dutzende von Ständen produzieren wahrhaft massive Mengen an mexikanischem Essen: frische Tacos in allen erdenklichen Variationen, knusprige Quesadillas, dampfende Tamales und eine schier endlose Auswahl an frittierten Köstlichkeiten.
Der kulinarische Star des Abends ist in vielen Regionen Pozole – eine herzhafte Suppe mit Hominy-Mais, Schweinefleisch und einem aromatischen roten Adobo. Dieses traditionelle Gericht wird häufig am 16. September in mexikanischen Familien serviert und hat tiefe Wurzeln in der präkolumbischen Zeit. Als süße Ergänzung sind Buñuelos mit Piloncillo-Sirup besonders beliebt – knusprige, dünne Teigfladen, die in heißem Öl gebacken und mit einem warmen Sirup aus Panela-Zucker, Zimt und manchmal Guave übergossen werden.
Besonders beeindruckend ist die Vielfalt der Salsas – von mild-fruchtigen Kreationen bis hin zu feurig-scharfen Salsas mit Habaneros oder Chipotles. Jeder Schärfegrad findet hier seine Liebhaber, und die Kunst des Salsa-Machens wird von Generation zu Generation weitergegeben. Von der milden Salsa Verde mit Tomatillos bis zur feurigen Salsa Roja mit gerösteten Tomaten und Chiles – jede Region Mexikos hat ihre eigenen Geheimrezepte.
Von Acatempan nach Berlin: Mexikanische Unabhängigkeit in Deutschland
Die Feier des mexikanischen Unabhängigkeitstags ist ein globales Phänomen – mexikanische Botschaften weltweit organisieren elegante Galas, bei denen der jeweilige Botschafter das traditionelle Ritual des „Grito“ nachstellt. Diese Events sind meist exklusiv: Mexikanische Staatsbürger können sich auf Wartelisten eintragen, während die Botschaft gezielt Geschäftspartner und befreundete Organisationen einlädt.
Interessant ist jedoch, wie sich die Feierlichkeiten in Deutschland über die Jahre entwickelt haben – ein deutlicher Indikator für die wachsende mexikanische Gemeinschaft. Während 2008 meist nur die Botschaftsgala oder eine kleine Feier in einem mexikanischen Restaurant stattfand, explodierte das Interesse um 2018 förmlich. Große Community-Events entstanden, und mittlerweile werden in verschiedenen deutschen Städten wie Berlin, München und Frankfurt mehrere Veranstaltungen parallel beworben.
Diese Entwicklung zeigt: Es sind vor allem die mexikanischen Einwanderer selbst, die ihre Traditionen lebendig halten und die Feiern Jahr für Jahr größer werden lassen. Was als kleine Nostalgie-Runde begann, ist zu echten Volksfesten geworden.
Ein Fest, das Geschichte und Gegenwart verbindet
Der mexikanische Unabhängigkeitstag zeigt, wie aus zwei völlig verschiedenen politischen Bewegungen eine nationale Identität entstehen kann. Von Hidalgos spontanem Volksaufstand über Morelos‘ sozialrevolutionäre Ideale bis hin zur strategischen Allianz zwischen Guerrero und Iturbide – alle trugen zum Erfolg bei.
Heute verbindet dieses Fest Geschichte mit Genuss, Tradition mit Innovation. Es ist mehr als nur ein historisches Gedenken – es ist eine Feier der mexikanischen Identität, bei der jeder willkommen ist, mitzufeiern und die reiche kulinarische Tradition zu entdecken.
Ob in den belebten Straßen von Mexiko-Stadt, bei einer Botschaftsgala in Berlin oder bei einem gemütlichen Fest in einem deutschen mexikanischen Restaurant – der Geist des 16. September lebt in jedem Taco, jeder Salsa und jedem fröhlichen „¡Viva México!“ weiter.
**Quellen:** – Instituto de Investigaciones Históricas, UNAM: „Independencia de México. Lo más relevante de la lucha que inició el 16 de septiembre de 1810“ – Milenio: „Independencia de México: cronología de la lucha“ – Verschiedene historische Archive und offizielle Regierungsquellen
Foto von Jimmy Elizarraras von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/stadt-menschen-wahrzeichen-gebaude-20848559/
